Zum 161-jährigen Vereinsjubiläum berichtet Beatrice Wichmann über die Jubiläumsfeste im ersten Jahrhundert der Vereinsgeschichte.
„Gut Heil“ tönte es in traditioneller Turnermanier durch den Festsaal des Deutschen Theaters, als Nikolaus Schmelz seine Festansprache zum 50. Stiftungsfest des TSV München von 1860 beendet hatte. Das „Gut Heil“ war in diesem Fall keinem geringeren als dem Prinzregenten Luitpold gewidmet, welcher selbst den Feierlichkeiten im Jahr 1910 beiwohnte. Die Anwesenheit Seiner Königlichen Hoheit zeugte von den engen Verbindungen zwischen den Sechzgern und dem Haus Wittelsbach sowie der großen gesellschaftlichen Bedeutung des Turnvereins, die weit über die einer reinen Leibesübungsanstalt hinausging. Prinzregent Luitpold war an diesem 2. Juli 1910 nicht der einzige Ehrengast mit Rang und Namen. Zahlreiche hochrangige Gäste wohnten der Feier im prunkvollen Festsaal des Deutschen Theaters bei, darunter auch der Münchner Oberbürgermeister Dr. Wilhelm von Borscht sowie weitere Mitglieder des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten. Vertreter fast aller bayerischer Turnvereine und weiterer Vereine aus dem Deutschen Reich und der K. u. K.-Monarchie waren angereist, um den Löwen die Ehre zu geben. Sogar der Deutsche Turnverein aus Kairo war mit einer Delegation vertreten.
Eine Betrachtung der Stiftungsfeiern in der Geschichte des TSV München von 1860 ist lohnend, nicht zuletzt da sich hieran die Ausformung des Vereinslebens im jeweiligen Kontext, sondern auch der gesamtgesellschaftliche Anspruch des Vereins ablesen lässt.
Vor allem seit den 1840er Jahren hatten sich in den Staaten des Deutschen Bundes eine Vielzahl von (Turn-)vereinen gegründet. Darunter ordneten sich einige der revolutionstragenden national-liberalen Bewegung zu. Die neu gegründeten Zusammenschlüsse von Bürgern versuchten politische und soziale Aufgaben zu erfüllen, die der Staat nicht leistete. Turnvereine verbanden ihren leiblichen daher mit einem gesamtgesellschaftlichen Auftrag im Sinne von frühdemokratischer Teilhabe und Partizipation. Man verstand sich als wichtiger Teil des städtischen Kulturlebens, der auch öffentliche Verpflichtungen wahrnahm. So existierte beispielsweise ein eigener Turner-Sanitätszug sowie eine von Vereinsmitgliedern zusammengestellte Freiwillige Feuerwehr. Der Verein unterhielt außerdem eine eigene Bibliothek mit 900 Bänden, die er seinen Mitgliedern kostenfrei zur Verfügung stellte. Seit den frühen Jahren nach der Gründung des Münchner Turnvereins (1860-1862 zunächst unter dem Namen „Verein zur körperlichen Ausbildung“) übernahmen neben den Turnerriegen und den genannten Unternehmungen auch gesellige Einrichtungen eine zentrale Rolle im Vereinsleben. Bereits 1861 wurde der Sängerkreis gegründet, welcher auch wesentlich zur Gestaltung der Jubiläumsfeierlichkeiten beitrug.
Die Planung und Durchführung der Feste nahm im Jahresablauf viel Raum ein. 1885 habe sich „alle Arbeit auf die Feier des 25jährigen Bestehens unseres Vereins“ konzentriert. Ergebnis der Planungen war ein mehrtägiger Festreigen, bestehend aus verschiedenen Turnwettkämpfen, Schauturnen, einem Fahnenzug durch die Münchner Innenstadt, an dem ca. 600 Turner teilnahmen, einem Festabend in Kil’s Kolosseum mit Beiträgen des Sängerkreises, Musikstücken, Turnvorführungen und Bildern aus der Vereinsgeschichte. Übertroffen wurde dies noch durch das Stiftungsfest 1890. Erstmals war hier Prinzregent Luitpold persönlich zu Gast. In den fünf Jahren zuvor wurde lediglich ein Glückwunschschreiben König Ludwig II. verlesen. Das 30-jährige Stiftungsfest war nicht nur aufgrund des runden Jubiläums und der hochrangigen Gäste von Bedeutung, sondern auch weil sich mit ihm die Einweihung des neuen Vereinsheimes in der Auenstraße verband.
Programm des „Jubelfeier-Fest-Konzerts“ des Sängerkreises anlässlich des Stiftungsfestes 1911 mit Beteiligung von Mitgliedern der Münchner Hofoper (Archiv des TSV München von 1860 e.V.).
Die Tradition der umfassenden Jubiläumsfeiern setzte sich auch im 20. Jahrhundert fort. Vor allem zu den runden Geburtstagen 1900 und 1910 wurde besonders ausgiebig gefeiert. Mittlerweile fanden die Festabende im Saal des Deutschen Museums statt, der zu den exklusivsten Veranstaltungsräumen Münchens gehörte. Zu den Programmen der Festabende seit 1910 gehörte auch die Aufführung von Festspielen, die das Vereinsmitglied Franz Grundner (1882-1961) eigens zu diesem Zweck verfasste. 1910 demonstrierte sein Werk die Entwicklung der Turn- und Kampfspiele vom griechischen Altertum bis in die Gegenwart. Ein Hofschauspieler sprach dazu die Verse, die Schaubilder hatte zuvor Kunstmaler und Vereinsmitglied Carl Moos geschaffen. Der Festspielautor Grundner prägte fortan, vor allem aber seit den 1930er Jahren die Außenwirkung des Vereins maßgeblich mit. Neben seiner Mitgestaltung von Vereinsfeiern, der schriftlichen Ausarbeitung von Gedichten und Schauspielen, seiner redaktionellen Mitarbeit am Nachrichtenblatt des Vereins, wurde er 1936 auch Pressewart und Schriftleiter des Vereins. Der überzeugte Nationalsozialist und SA-Mann Grundner nutzte die Kanäle des Vereins in den Folgejahren für seine propagandistischen Beiträge im Ungeist der NS-Ideologie.
Neben den kulturellen Beiträgen am Festabend nahmen die turnerischen und sportlichen Beiträge von Anfang an die Hauptrolle im Programm der Stiftungsfeiern ein. Schauturnen und Wettkämpfe gehörten bis in die 1930er Jahre zum festen Feierkanon. Nach Gründung weiterer Abteilungen trugen auch diese zum sportlichen Programm bei. So veranstaltete die 1903 gegründete Schwimmriege 1910 ein abendliches Schauschwimmen im Müllerschen Volksbad.
Trotz der kurzen Zeit nach Ende des Ersten Weltkrieges und Revolutionsgeschehen in München fand das 60. Stiftungsfest 1920 in gewohnter Manier statt. Über mehrere Festwochen hinweg wurde geturnt, geehrt und gefeiert. Den Auftakt machte ein Ehrenabend für die Jubiläums-Mitglieder der Männerabteilung im Vereinsheim am 20. März. Am Tag darauf folgte der Ehrenabend der Frauenabteilungen. Am 28. März veranstaltete der TSV aus dem Ausstellungsgelände an der Theresienhöhe ein Jubiläums-Turn- und Sportfest, in dessen Rahmen alle Abteilungen ihr Können zeigten. Auch die 1899 gegründete Spielriege, in der ab Anfang des 20. Jahrhunderts auch Fußball gespielt wurde, beteiligte sich am 60. Jubiläum in Form eines Fußballturniers an Ostern. Neben den Sechzgern nahmen der FC Wacker München, der FC Pfeil Nürnberg sowie der FC Nordstern Basel teil. Auch wenn die finanziellen Belastungen immens waren und ein Spendenaufruf an die Mitglieder nötig wurde, setzten sich die Feierlichkeiten im Juni mit einem Konzert des Sängerkreises im Vereinsheim fort.
Die angespannte wirtschaftliche Situation zum Ende der 1920er Jahre erschwerte auch die Planungen für das nächste runde Jubiläum im Jahr 1930. Der Hauptausschuss des Turnvereins hatte daher einen Antrag gestellt, diesmal auf eine Feier im Deutschen Theater zu verzichten, um sich die hohen Mietkosten zu sparen. Der Verwaltungsrat des gesamten Turn- und Sportvereins widersetzte sich dem allerdings und hielt an der prunkvollen Veranstaltungslocation fest. Wie schon 1910 und 1920 wurde erneut ein Festlied von Franz Grundner gespielt. Darüber hinaus spielten Musiker den „Kronprinz-Rupprecht-Marsch“, Passagen aus der Wagner-Oper „Tannhäuser“ wurden gegeben und 150 Turnerinnen und Turner sowie Sportlerinnen und Sportler spielten das Festspiel „Das zerbrochene Schwert“ von J. L. Ostermayr. Mitglieder der Turnriegen gaben außerdem szenische Aufführungen aus dem Programm des Deutschen Theaters zum Besten. Die Ausmaße der Feierlichkeiten überraschen angesichts der angespannten wirtschaftlichen und politischen Situation der Weimarer Republik. Auch innerhalb des Vereins standen die Zeichen auf Niedergang. Ende der 1920er Jahre war ein starker Mitgliederschwund zu verzeichnen, auch die geselligen Veranstaltungen wie Maskenbälle zu Fasching wurden aufgrund schlechter Besucherzahlen zur Enttäuschung. Eine Instanz des geselligen Vereinslebens seit 1861, der Sängerkreis, litt ebenfalls unter Zuwachs und musste seine Auftritte 1929 schließlich einstellen.
Ankündigung der Feier zum 98. Gründungsfest 1958 im Nachrichtenblatt des Vereins (Archiv des TSV München von 1860 e.V.).
Nach 1933 stand das Vereinsleben im Zeichen des Nationalsozialismus und wurde propagandistisch überformt. Im ersten Kriegsjahr 1939 fiel das Gründungsfest, was mittlerweile regelmäßig im Herbst begangen wurde, aus. Man verwies darauf, es im Folgejahr nachholen zu wollen. Schließlich fand die Feier zum 80. Stiftungsfest „in schlichtem Rahmen“ am 7. Dezember 1940 im Vereinsheim statt. In den folgenden Jahren schränkte der Krieg das öffentliche Leben immer weiter ein, so auch das Vereinsleben im TSV München von 1860. Nach Kriegsende versuchte die Vereinsführung an die Traditionen vor 1933 anzuknüpfen und sich auf die bürgerlich-konservativen Wurzeln des Vereins zu berufen. Zum 90. Stiftungsfest war Vereinsprotektor und Chef des Hauses Wittelsbach Kronprinz Rupprecht anwesend und wurde mit Ovationen gefeiert. Die nationalsozialistische Vergangenheit hingegen war weder das Thema inhaltlicher noch personeller Auseinandersetzungen. So wurde Grundner, dem ehemaligen Pressewart, Jubiläums-Festspielautor und SA-Mann, der in den 1950er Jahren wieder in der Geschäftsführung des Vereins tätig war, anlässlich des 100-jährigen Vereinsjubiläums 1960 sogar die Ehrenplakette für besondere persönliche Dienste um den Verein verliehen.
Die 100-Jahrfeier 1960 erstreckte sich fast über acht Monate! Am Beginn stand im April eine Matinée im Alten Rathaussaal, den Abschluss bildete die Feier am 9. November 1960 im Kongresssaal des Deutschen Museums. Die Festansprache hielt der Arzt, Medizinhistoriker und Philologe Prof. Dr. Ludwig Englert. Vereinsmitglied Englert stellte sich in die Tradition des Selbstverständnisses des Vereins im 19. Jahrhundert, indem er die Bedeutung des TSV für die gesamte Münchner Stadtgesellschaft betonte. Seine Worte zum Abschluss seiner Rede lauteten: „100 Jahre Turn- und Sportverein München von 1860 bedeuten ein Stück Stadtgeschichte, und sein Wirken macht einen bedeutenden Teil des Münchner kulturellen Lebens aus. Münchner Art und Wesen hat den Geist unseres Vereins mitgeformt, und vielleicht ist andererseits auch der sportliche Geist, der in ihm von jeher lebendig war, auf den Geist dieser Stadt nicht ganz ohne Wirkung geblieben. Wir können uns jedenfalls unseren Verein nicht ohne München und München nicht ohne unseren Verein vorstellen.“
Über die Betrachtung der Jubiläumsfeierlichkeiten innerhalb der ersten 100 Jahre Vereinsgeschichte wird der Anspruch des Vereins auf seine stadtgesellschaftliche und kulturelle Bedeutung deutlich. Die Orte der Feierlichkeiten manifestieren dies ebenso wie die daran teilhabenden Persönlichkeiten und das umfangreiche kulturelle Festprogramm.
20. Oktober 2022