Die Abteilung für Vereinsgeschichte veröffentlicht im Jubiläumsjahr jeden Monat einen Artikel zur Historie der Löwen. Dieses Mal blickt Thomas Bohlender 25 Jahre zurück – in den Mai 1996, als listige Löwen beinahe den Meisterschaftsanwärter Borussia Dortmund an den Rand einer Niederlage gebracht hätten.
Samstag, 11. Mai 1996, 33. und vorletzter Spieltag der Bundesligasaison 1995/1996, die Sonne blinzelt vom weiß-blauen Himmel über dem Münchner Olympiastadion, in dem 66.000 Zuschauer, darunter 20.000 BVB-Fans gespannt auf die Begegnung zwischen dem TSV 1860 München und Borussia Dortmund warten. Sechzig hatte sich in der zweiten Saison nach dem Wiederaufstieg im gesicherten Mittelfeld der Tabelle etabliert, Borussia Dortmund den Bayern am 12. Spieltag die Tabellenspitze weggeschnappt und seither nicht mehr hergegeben. Man lag vor diesem denkwürdigen Spieltag mit drei Punkten Vorsprung vor den Bayern. Aber was bedeuten schon drei Punkte Vorsprung, wenn der Verfolger FC Bayern heißt und gegen Schalke spielt.
Beinahe hätten die Löwen dem BVB vor 60.000 Zuschauer im Münchner Olympiastadion die Meisterschaft vermasselt (Foto: Wolfgang Budack).
Mit einem Sieg in München hätte die Borussia aus Dortmund wegen ihres wesentlich besseren Torverhältnisses alles klar machen und den Meistertitel eintüten können. Aber es kam ganz anders. Dortmund begann nervös, zaghaft, vorsichtig. Nur nicht verlieren war die Devise. Aber sowas geht im Fußball ja meistens schief. Die erfrischend aufspielenden Löwen dominierten das Spiel in den ersten 30 Minuten, das 1:0 lag in der Luft, Bernhard Winkler zirkelt den Ball an den Pfosten. Glück für den BVB, der zunehmend besser ins Spiel kam und in der 38. Minute durch Stefan Reuter in Führung ging. Als Michael „Susi“ Zorc in der 65. Minute auf 2:0 erhöhte, schien alles gelaufen. Dortmund beschränkte sich auf das Verwalten des Vorsprungs, lauerte auf Konter und Sechzig schien geschlagen. Aber die Löwen kamen nochmal zurück, angetrieben von ihrem überragenden Spielmacher Piotr Nowak. Olaf Bodden, das unvergessliche Kopfballungeheuer, erzielte in der 68. Minute den Anschlusstreffer und auf Flanke von Nowak in der 80. Minute den Ausgleich zum 2:2. Beinahe hätten die Löwen durch Daniel Borimirov, der zehn Meter vor dem Tor freistehend über den Ball säbelte, sogar noch den Siegtreffer erzielt. So aber blieb es beim 2:2.
Nach dem Schlusspfiff sah man strahlende, zufriedene Löwen, die ein großes Spiel gezeigt und dem Tabellenführer die Stirn geboten hatten, während sich die Dortmunder zur Trainerbank, aber nicht in die Kabine begaben, leicht bedröppelt ob der scheinbar vergeigten Möglichkeit, sich in München durch einen Sieg, den sie leichtfertig aus der Hand gegeben hatten, zum Deutschen Meister zu küren. Alle BVB-Spieler standen eng beisammen, gespannt, erwartungsvoll. Auch unter den Zuschauern gespannte Stille, keiner wollte das weite Rund des Olympiastadions verlassen, denn das Spiel der Bayern auf Schalke lief ja noch. Wie würden die Bayern abschneiden? Das ganze Stadion wartete. Plötzlich, ein kollektiver Jubelschrei aus dem Dortmunder Spielerpulk, Stefan Reuter rennt als Erster los, in Richtung Dortmunder Fankurve, jubelnd, die Arme weit ausgebreitet als wolle er die ganze Welt umarmen, glücklich, berauscht, ekstatisch, kreiselnd wie ein Flieger und alle Dortmunder Spieler hinter ihm her. Alle Dämme brachen. Andreas Müller hatte für Schalke in einem an Dramatik nicht zu überbietenden Schlussakt in der 90. Minute im Parkstadion den Siegtreffer gegen die Bayern erzielt. Dortmund war Meister. Auch die Löwenfans zollten der Borussia dafür anerkennenden Applaus.
Der letzte Spieltag war ein Fest, für Sechzig, das auf dem Bökelberg 2:0 gewann und für Borussia Dortmund, das ausgelassen die zweite Meisterschaft in Folge feierte, nicht aber für den FC Bayern, der gegen Fortuna Düsseldorf, das bisher in der Bundesligageschichte einmalige, an Dämlichkeit nicht zu übertreffende Kunststück fertig brachte, statt der erlaubten drei, in der 46. Minute vier Spieler gleichzeitig einzuwechseln. Dieser Regelverstoß blieb aber offensichtlich auch dem Schiedsrichter verborgen. Glück für die Bayern: Fortuna Düsseldorf verzichtete aufgrund der Bedeutungslosigkeit des Spiels, das mit einem 2:2 Unentschieden endete, auf einen Protest.
Wer sich für historische Spiele des TSV 1860 München interessiert, kann auch auf sechzger.de fündig werden.
Teil 1: Die Gründung eines Traditionsvereins – 160 Jahre TSV München von 1860
Teil 2: Echt turnerische Brüderlichkeit
Teil 3: Die Stadiongeschichte(n) der Fußballer des TSV 1860
Teil 4: Der Verein wächst
Teil 5: Der Verein zwischen 1914 und 1933 – eine sportliche und politische Vereinsgeschichte
Teil 6: TSV 1860 von 1933-1945 – Die NS-Zeit: Ein dunkles Kapitel in der Vereinsgeschichte
Teil 7: Die Ära Wetzel: Sportliche Erfolge haben ihren Preis
Teil 8: Die Zeit von 1970-1990: Anfangs auf und ab – später Lizenzentzug
Teil 9: Die Ära Wildmoser von 1990-2004: Aufstieg und Fall einer Vereinsikone
Teil 10: Turbulente Zeiten 2004 bis 2014
Teil 11: Mehr als Fußball: Der TSV 1860 von 2014 bis 2021
Teil 12: Interview mit Zenta Gastl-Kopp: „Ich hatte ein tolles Leben“
Bilder aus 16 Jahrzehnten Sechzig
20. Oktober 2022